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Roman von Walter Wosp
 
  
 
 
 
 

 
 
COOPERTEST

»Heute ist ein Coopertest. Sie sollten mitmachen«, sagt Ingrid.

»Na klar.«

Alle Patienten, die in die Gangschule eingeteilt sind, heute sind es sechs, stellen sich in einer Linie auf. Beim wöchentlichen Coopertest geht es darum, zwölf Minuten zu gehen. Die Therapeutinnen stoppen für jeden Patienten die Zeit.

»Eine Runde hat genau 240 Meter. Wir haben alle zehn Meter eine Markierung gemacht. Bleiben Sie bitte stehen, wenn Sie meinen Pfiff hören. Wir tragen dann den zurückgelegten Weg ein«, erklärt Clarissa, eine Therapeutin, die ich heute zum ersten Mal sehe.

»Nicht vergessen, es geht nicht darum, wie schnell Sie gehen, ja, sondern, dass das Gangbild schön ist«, betont Ingrid.

Ein Hinweis, der in der Sekunde, in der er gesagt wird, von jedem Patienten ignoriert wird. Natürlich versucht jeder, in den zwölf Minuten so weit wie möglich zu kommen.

Ich stehe mit meinem Rollator auf der Startlinie, schaue mir die anderen Patienten an und schätze, wie viele ich von ihnen abhängen kann. Ingrid stellt sich hinter mich.

»Ich fahre mit dem Rollstuhl hinter Ihnen, ja. Wenn Sie keine Kraft mehr haben, setzen Sie sich ganz einfach nieder.«

»Was bedeutet der Satz: ›Keine Kraft haben?‹« sage ich vollmundig.

»Schauen wir mal«, schmunzelt Ingrid.

»Achtung, fertig, los!«

Wir sechs starten. Einer ohne Stöcke, zwei mit Gehstöcken, einer mit Krücken, einer mit einem Vierpunktstock, ich mit meinem Rollator. Nach zwanzig Sekunden sehe ich nur noch die Rücken meiner Mitpatienten. Nach einer Minute sehe ich nur noch den Fußboden, weil ich schauen muss, wohin ich meine Beine setze. Nach geschätzten 30 Minuten sagt Ingrid: »Zwei Minuten haben wir schon.«

›Unmöglich‹, denke ich und frage ungläubig: »Wie viel?«

»Zwei Minuten.«

Ich gehe.

»Drei Minuten.«

Ich werde vom Patienten der ohne Stöcke geht überrundet.

Ich gehe.

»Fünf Minuten.«

Ich werde von einem Stockgeher überrundet.

»Sechs Minuten, Halbzeit.«

Ich werde vom Patienten, der ohne Stöcke geht, zum zweiten Mal überrundet.

Ich gehe.

»Geht´s?« fragt Ingrid.

»Alles geht«, keuche ich.

»Geht´s noch?« fragt Ingrid noch einmal.

Ich merke, dass ich gar nichts gesagt habe, ich bin so konzentriert auf das Gehen, dass ich die Antwort nur gedacht habe. »Na, sicher«, sage, nein, krächze ich. Ich merke, dass ich einen völlig trockenen Hals habe.

»Ich gehe mit dem Rollstuhl hinter Ihnen. Machen Sie lieber eine Pause, wenn es zu viel wird.«

»Führen Sie mich nicht in Versuchung. Wie lange noch?«

»Noch etwas mehr als fünf Minuten.«

Mich überrundet der zweite Stockgeher. Ich schaue zur Seite und beginne sofort zu schwanken. ›Konzentriere dich‹, denke ich, ›es kann nicht mehr lange sein.‹ Ich werde vom Patienten, der ohne Stöcke geht, zum dritten Mal überrundet. »Wie viel noch?«

»Noch drei Minuten, bald haben Sie es überstanden.«

Ich merke, dass ich die letzte Minute in Trance gegangen sein muss, zumindest kann ich mich an die Zwischenzeitdurchsagen nicht mehr erinnern. Ich werde zum zweiten Mal vom Stockgeher überrundet.

»Setzen Sie sich kurz nieder. Sie können dann ja wieder weiter gehen.«

»Sicher nicht. Eine Pause mache ich, wenn ich achtzig bin und mit dem Rollator gehe.«

»Äh«, sagt Ingrid, »Sie gehen mit einem Rollator, ja.«

»Noch«, sage ich, und werde vom zweiten Stockgeher und ein paar Meter später vom Patienten der ohne Stöcke geht überrundet.

»Eine Minute, Endspurt.«

Ich habe nicht einmal mehr die Kraft über den »Endspurt« zu lachen, aber die eine Minute gehe ich auch noch und wenn ich nachher tot umfalle. Ich höre einen Pfiff und falle zwar nicht tot, aber ohne Abwehrbewegung nach hinten in meinen Rollstuhl.

»Tapfer«, sagt Ingrid, »aber auch ein bisschen dumm, ja. Manchmal ist eine Pause besser.«

»Wenn ich eine Pause gemacht hätte, wäre ich nie mehr aufgestanden. Wie weit bin ich gegangen?«

»Siebzig Meter«, antwortet Ingrid.

»Ich bin viel zu müde für Scherze. Wie viel wirklich?«

»Siebzig Meter, ganz genau, ja. Schauen Sie selbst, hier ist die Markierung. Das ist übrigens für Ihren Zustand gar nicht so schlecht, ja.«

Ich bitte einen Pfleger, mir ins Bett helfen, ich bin zu schwach, um selbst den Transfer vom Rollstuhl ins Bett machen zu können. Dann bitte ich ihn, mir den Laptop aus dem Kasten zu holen. Ich starte Excel. 70 Meter in 12 Minuten ergibt für die Marathondistanz von 42.240 Meter 7.241,14 Minuten, ergibt 120,69 Stunden, ergibt 5,03 Tage. Ich müsste zwar keine Pinkelpause einlegen, weil ich ja ohnehin den Bauchkatheter habe, aber trotzdem: Es gibt noch einiges zu tun bis zum New York Marathon Anfang November.