HOME  
Roman von Walter Wosp
 
  
 
 
 
 

 
 
WIEDER ZUHAUSE

Zwei Wochen vor Weihnachten gehe ich tatsächlich nach Hause. Sechs Monate Reha-Zentrum liegen hinter mir.

»Trinken wir noch einen Kaffee?« fragt Ingrid.

»Gerne.«

Wir gehen/rollen in das Zimmer der Physiotherauten. Ingrid kommt mit zwei Tassen. Wir lassen die letzten Monate vorbeiziehen.

»Weißt du, manchmal überlege ich darüber nach, wie es mir heute gehen würde, wenn der Chirurg zwei, drei Stunden früher operiert hätte«, sage ich nachdenklich.

»Warum hat er nicht?«

»Er hat gesagt, er hat so spät wie möglich operiert, weil die Operation sehr gefährlich ist.«

»Na, da musst du ihn aber schon verstehen«, sagt Ingrid. »Sein Job ist es, dich am Leben zu erhalten, ob du dann gehen kannst oder leichte Behinderungen bleiben, ist für ihn nicht so wichtig.«

»So einfach ist das?« frage ich.

»So einfach ist das, ja.«

Wir trinken beide, ein paar Sekunden herrscht Stille, Ingrid zündet sich eine Zigarette an, dann schaut sie auf ihre Uhr. »Ich muss dann langsam wieder«, sagt sie und zuckt bedauernd die Achsel.

»Ok, na dann. Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich dir und allen anderen hier im Zentrum bin«, sage ich mit belegter Stimme.«

»Schon in Ordnung«, sagt Ingrid.

»Was hast du?« frage ich, weil ich sehe, dass Ingrid zwinkert.

»Nichts, mir ist nur der Rauch ins Auge gekommen.«

»Rauch ins Auge?«

»Na ja, irgendwie bin ich traurig, dass du gehen musst«, sagt sie und zwinkert weiter.

»Du hast mich ja nach Hause geschickt.«

»Weil es für dich am Besten ist, ja. Ich darf trotzdem ein bisschen traurig sein, oder? Weißt du, es gibt solche und solche Patienten.«

»Ja?«

»Du warst ja doch einer von meinen lieberen. Ich habe schon das Gefühl, dass wir uns grundprinzipiell etwas näher als nur beruflich gekommen sind, dass wir Freunde geworden sind.«

Ich erhebe mich aus dem Rollstuhl, stütze mich auf die Tischplatte und will zu Ingrid gehen.

»Bleib stehen«, sagt sie, kommt mir die zwei Schritte entgegen und umarmt mich. »Ruf mich manchmal an, wenn du zu Hause bist.«

»Nur wenn du zu schluchzen aufhörst«, sage ich und merke, wie meine Augen ebenfalls feucht werden.

Das Reha-Zentrum ist in den Monaten der Pflege zu einer zweiten Heimat geworden. Als aber dann Julia kommt, den Koffer aus meinem Kasten nimmt und wir zum Aufzug gehen, weiß ich, wo ich wirklich hingehöre.

Ich freue mich wie ein kleines Kind auf zu Hause. Zu Hause angekommen bringt Julia den Rollstuhl in den Keller, ich schwöre mir, dass ich ihn nie mehr aus dem Keller holen werde.

Ich gehe die Stiegen hoch, gehe ins Wohnzimmer, wir setzen uns auf die Couch und umarmen uns. Endlich wieder zu Hause. Wir reden ein paar Minuten gar nichts, sitzen nur aneinander gekuschelt da und spüren uns.

Die ersten Tage zu Hause sind, man kann es nicht anders sagen, sonderbar. Jede gewohnte Tätigkeit wird zum Abenteuer. Ich kann nicht über die Stiege in der Wohnung vom Wohnzimmer ins im oberen Stockwerk gelegene Schlafzimmer gehen. Die Stiege wurde von einem Innenarchitekten geplant und ist dementsprechend stylisch, aber eben nicht barrierefrei. Ich gehe also durch das ungeheizte Stiegenhaus ins Schlafzimmer.

Ich habe, seit wir vor 25 Jahren in die Wohnung eingezogen sind, jeden Tag die Zeitung aus dem Briefkasten geholt. Ich komme am ersten Tag, wieder aus dem Schlafzimmer durch das eiskalte Stiegenhaus, in die Küche und es liegt die Zeitung bereit.

»Warum hast du die Zeitung geholt?« frage ich.

»Weil ich das seit deinem Unfall immer gemacht habe und weil du sie eh nicht holen kannst.«

»Ich will sie aber holen, wir müssen versuchen wieder halbwegs normal zu leben.«

»Dann gehst du jeden Tag die Stufen runter und wieder rauf?«

»Training«, sage ich, »ich muss aufpassen, dass ich nicht versumpfe, wenn ich keinen Stundenplan mehr habe.«

»Na gut, dann mach gleich den Kaffee«, sagt Julia fröhlich.