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Roman von Walter Wosp
 
  
 
 
 
 

 
 
KRISE

»Das wirklich Schlimme«, sage ich nachdenklich, »das wirklich Schlimme ist, dass ich weiß, dass es mit all den Therapien und Medikamenten trotzdem nicht mehr besser werden kann. Damit musst du erst einmal klarkommen.«

»Ach komm«, sagt Marion und versucht den nächsten Satz positiv klingen zu lassen, »du weißt doch. Die Hoffnung stirbt zuletzt.«

»Die Hoffnung ist schon lange gestorben«, sage ich zögernd. »Irgendwann habe ich das ›noch nicht‹ und das ›alles geht‹ verloren.«

»Das ist mir auch schon aufgefallen. Ich wollte nur nichts sagen.«

»Keine Sorge, ich schaff das schon. Einmal muss auch diese Pechsträhne aufhören. Nur was dann? Was sind meine Zukunftsaussichten? Ich weiß, dass mein Zustand nicht mehr besser werden kann, nur noch schlechter, wenn ich nicht täglich meine Übungen und Therapien mache. Und irgendwann kommt dann das Alter auch dazu. Ich bin ja nicht mehr wirklich jung.« Ich schüttle resigniert den Kopf. »Und da würde es euch wirklich wundern, wenn ich bei all dem, was passiert ist, nicht einmal daran gedacht hätte?«

»Das sollst du nicht einmal denken«, schreit Julia und schaut mich zornig an.

»Ich denk aber dran, fast täglich«, sage ich leise.

»Was?« fragt Julia, »was?«

»Nichts. Aber, noch einmal. Ich mache es eh nicht. Du kannst ganz beruhigt sein. Ich wüsste auch gar nicht, wie ich es machen soll.«

»Was heißt, du weißt nicht, wie du es machen sollst?« reagiert Erich verblüfft.

»Na so einfach ist es nicht, wenn du einmal wirklich darüber nachdenkst. Rein theoretisch, natürlich«, setze ich hinzu.

»Hör mit diesem Blödsinn auf«, sagt Julia zornig und zieht ihre Hand weg.

»Nein, ganz im Ernst. Ich hab mich ja wirklich damit beschäftigt. Ein paar Fakten gefällig? Nur zu eurer Information: Im EU-Raum sterben fast 60.000 Menschen jährlich durch Suizid. Zehn Mal mehr als durch Gewaltverbrechen. Männer bringen sich öfter um als Frauen. Bis zum 40. Lebensjahr ist Depression die Todesursache Nummer eins.«

Erich will etwas sagen.

»Warte, ich bin noch nicht fertig. Die häufigste Suizidmethode bei Männern und Frauen in Österreich ist das Erhängen. Rund 40% der Selbstmorde von Frauen werden durch Erhängen begangen, 25% durch Vergiften und 14% durch Sturz aus der Höhe. Bei Männern erhängen sich fast 50% der Selbstmörder, ungefähr 20% erschießen sich und rund zehn Prozent vergiften sich.«

»Wo hast du das her?«

»Habe ich recherchiert.«

»Wie kommst du überhaupt auf das Thema, das ist ja krank«, sagt Marion.

»Da hat im Reha-Zentrum einer den blöden Spruch losgelassen, für mich der blödeste überhaupt: ›Gott prüft nur die, die die Prüfung auch bestehen.‹«

»Kenne ich nicht, habe ich noch nie gehört«, sagt Marion. »Ich kenne nur ›Gott prüft die, die er am liebsten hat.‹ Wie kommst du überhaupt auf den Spruch?«

»Da ging es in einer Diskussion darum ob Menschen, die im Rollstuhl sitzen oder eine andere schwere Behinderung haben, mehr Selbstmorde verüben, als andere.«

»Und? Machen sie?«

»Angeblich nicht. Angeblich ist die Rate gleich.«

Erich schüttelt zweifelnd den Kopf.

»Ich weiß es auch nicht«, sage ich. »Was ich weiß ist, dass wir so ziemlich im internationalen Spitzenfeld bei der Selbstmordrate liegen. In Österreich sterben mehr als doppelt so viele Menschen durch Selbstmord als durch Autounfälle.«

»Das glaube ich nie. Da würde man ja jeden Tag was in den Zeitungen lesen.«

»Würdest du auch, wenn es nicht ein Gentleman Agreement der Herausgeber geben würde, dass sie nicht drüber berichten.«

»Warum nicht?«

»Wegen Nachahmungstätern. Damit nicht noch mehr Leute auf den Geschmack kommen.«

»Das ist aber jetzt geschmacklos«, sagt Marion.

»Schönes Wortspiel, aber es stimmt.«