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Roman von Walter Wosp
 
  
 
 
 
 

 
 
ROLLSTUHLTRAINING

Der Zivildiener bringt einen neuen Therapieplan. Ich bin von 14:00 bis 15:00 zum Rollstuhltraining eingeteilt.

»Ich brauche kein Rollstuhltraining, ich will gehen, ich werde nicht mit einem Rollstuhl fahren«, sage ich zu Matthias, der mir das Frühstück macht.

Er schaut mich an.

»Ich hoffe für Sie, dass Sie wieder gehen werden, aber realistisch ist, dass Sie in der nächsten Zeit mit dem Rollstuhl fahren werden.«

»Ja, so einen ähnlichen Satz habe ich schon einmal gehört. Okay, hier im Haus. Aber ich werde niemals zu Hause mit einem Rollstuhl fahren. Ich werde ganz sicher gehen.«

Matthias wechselt übergangslos ins »Du«.

»Ich glaube es dir, aber sei gescheit. Mit dem Rollstuhl kommst du erstens ins Freie und zweitens machst du was für deinen Oberkörper, die Arme und deinen Rumpf und das ist ganz wichtig, wenn du dann einmal gehst.«

Ganz bin ich nicht überzeugt, beschließe aber, mir das einmal anzusehen. Um 14:00 komme ich zum Treffpunkt, ein paar andere Patienten warten schon, mit einigen Minuten Verspätung trudelt Angelo, der Sporttherapeut, ein. Er begrüßt mich und fragt mich nach meiner Verletzung.

»Ich habe vor ungefähr einem Monat einen Unfall gehabt und mir dabei das Rückenmark gequetscht.«

»Andere Verletzungen auch?«

»Nein, nur das Rückenmark gequetscht.«

»Auf welcher Höhe?«

»Keine Ahnung«, sage ich.

»Sie werden doch wissen, bei welchem Wirbel Sie die Quetschung haben?«

»Nein, das ist mir auch egal, mich interessiert nicht die Verletzung, mich interessiert nur, dass ich wieder gesund werde.«

Kopfschüttelnd geht Angelo zu einem anderen Patienten. Ich überlege kurz, ob mir das nicht peinlich sein sollte, ich habe wirklich keine Ahnung über die Details meiner Verletzung, mir fällt ein, dass ich auch noch keine Sekunde darüber nachgedacht habe oder einen Arzt gefragt habe. Ich bin so fokussiert aufs gesund werden, dass ich die Verletzung komplett verdrängt habe.

Schließlich sind alle Patienten anwesend, wir rollen ins Freie. Ich bin zum ersten Mal seit dem Unfall wieder unter freiem Himmel und in frischer Luft. Es ist warm, windstill, nur ein paar weiße Wolken sind am Himmel. Ideales Joggingwetter, ich muss schlucken.

Wir rollen gemeinsam auf einer Straße neben dem Gebäude, insgesamt sind wir drei Therapeuten und zehn Patienten. Bald löst sich die Gruppe auf, ich gehöre zu den Langsamen, versuche aber nicht der Letzte zu sein. Nach ungefähr einem halben Kilometer geht die Straße in eine leichte Steigung über. Die Steigung wird länger, meine Arme werden schwerer, mein Atem wird lauter. Schließlich kann ich nicht mehr, ich muss eine Pause machen.

Angelo stellt sich neben mich. »Geht es noch?«

»Alles geht. Nein, verdammt, es geht nicht mehr und wenn überhaupt, geht es nicht, wenn überhaupt dann rollt es«, fauche ich ihn frustriert an.

»Wollen Sie eine Pause machen?« fragt er und ignoriert meinen Ausbruch.

»Nein, wollen nicht, ich muss«, blaffe ich ihn an.

Ich hasse mich selbst, weil ich so schwach bin und meine Wut an ihm auslasse. Er dreht sich weg, geht hinter mich. Ich drehe mich mit dem Rollstuhl am Stand um und sage: »Denken Sie nicht einmal dran, mich anzuschieben.«

»Ich schiebe Sie sicher nicht an, außer, Sie bitten mich darum.«

»Das werden Sie nie erleben, lieber falle ich tot um.«

»Dann verstehen wir uns ja bestens«, sagt er und grinst.

»Tut mir leid, dass ich mich wie ein Arsch benommen und Sie so angeschnauzt habe, es ist nur alles momentan zu viel für mich«, sage ich nach ein paar Sekunden.

»Kein Problem. Das war das erste Mal, das ist ein Freiwurf. Beim nächsten Mal schnauze ich zurück.«

Seit dieser Antwort haben wir uns bestens verstanden. Langsam rolle ich weiter. Ich mache, im Gegensatz zu allen anderen, nur die sogenannte »kleine Runde«. Am Ende der Trainingseinheit treffen sich alle beim Haupteingang. Ich schnaufe wie nach zwei Stunden joggen.

»Wie war es?«

»Scheiße«, keuche ich, »ich hätte nie gedacht, dass das so anstrengend ist.«

»Das ist für Sie eine völlig neue Bewegung. Nach ein paar Tagen haben Sie sich daran gewöhnt.«

»Ich will mich aber nicht ans Rollstuhlfahren gewöhnen, ich will gehen.«

»Nun, es ist vielleicht ganz gescheit, wenn Sie beides können, wenn Sie dann einmal den Rollstuhl nicht mehr brauchen, umso besser.«

Mir fällt auf, dass ich trotz der Anstrengung nicht schwitze.

»Das kann bei Ihrer Art der Verletzung sein. Die gute Nachricht ist, dass Sie nicht so unangenehm nach Schweiß stinken, die schlechte, dass das im Sommer gefährlich werden könnte.«

»Warum?«

»Weil der Körper die Hitze nicht abführen kann, wenn er nicht schwitzt und Sie dann eventuell einen Hitzschlag bekommen.«

»Dann fahr ich eben, wenn es heiß ist, nicht mehr beim Rollstuhltraining mit«, grinse ich.

»Im Sommer sind Sie schon so austrainiert, dass Sie gar nicht mehr ins Schwitzen kommen«, kontert Angelo und grinst zurück.

Ich will mich verabschieden, strecke ihm die rechte Hand entgegen und sehe, dass der Handballen und die Hautfalte zwischen Daumen und Zeigefinger praktisch nur noch aus Blasen bestehen. Ich schaue auf die linke Hand, sie sieht genauso aus. Scheinbar habe ich noch immer so viel Adrenalin im Blut, dass ich keine Schmerzen spüre.

»Sehen Sie sich meine Hand an«, rufe ich erschreckt. »Wo bekomme ich Handschuhe?«

»Ein echter Rollstuhlfahrer fährt ohne Handschuhe«, bekomme ich als Antwort.

»Ich will aber weder ein echter noch ein falscher Rollstuhlfahrer sein, ich will gar keiner sein, ich will gehen«, stöhne ich und spüre plötzlich die Schmerzen in den Händen.